Theoretische und numerische Methoden zur Plasma-Wand Wechselwirkung

Die Entwicklung zukünftiger Fusionsreaktoren wie ITER und DEMO, als Tokamaks oder Stellaratoren, erfordert präzise Vorhersagen zur Stabilität des Plasmabetriebs und der Intensität der Plasma-Wand-Wechselwirkung.

Ein wesentliches Ziel der theoretischen Fusionsphysik in Jülich ist es, das Plasma-Wand-System so gut mathematisch zu beschreiben, dass zuverlässige Berechnungen und Vorhersagen möglich werden. Allerdings ist dieses Problem durch einen hohen Grad an Komplexität gekennzeichnet, da eine Vielfalt von elektromagnetischen, strömungsmechanischen, kinetischen, atomphysikalischen, chemischen und oberflächenphysikalischen Prozessen zusammenspielen und überdies auf sehr unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Skalen stattfinden. Die Theorie und numerische Modellierung magnetisierter (im Magnetfeld eingeschlossener) Plasmen und deren Wechselwirkung mit Wandmaterialien ist daher ein sehr breites Forschungsfeld, mit dem sich weltweit zunehmend viele Forschungsgruppen beschäftigen. Das Institut IEK-4 konzentriert sich in seinem Bereich Theorie auf genau diesen Teilaspekt, wobei der Schwerpunkt auf rechnergestützten Simulationen des Plasmas im wandnahen Bereichs eine Fusionsreaktors liegt.

Realistisch gesehen, kann man dieses komplexe System nur mittels numerischer Methoden beschreiben, da eine rein analytische Beschreibung im Sinne der „klassischen“ theoretischen Physik in den meisten praktisch relevanten Fällen nicht möglich ist. Allerdings bringen die auf elementaren physikalischen Prinzipien basierenden Modelle (First Principle Models) sogar die schnellsten und modernsten Superrechner schnell an ihre Grenzen. Vereinfachungen, Näherungen und zusätzliche Annahmen sind immer notwendig, um numerische Modelle der Plasmaphysik und der Plasma-Wand-Wechselwirkung auch praktisch nutzbar zu machen. Welche Auswirkung haben diese Vereinfachungen auf die Qualität von Modell-Vorhersagen? Das ist eine der wichtigsten Fragen bei allen plasmatheoretischen Untersuchungen. Diese Frage kann beantwortet werden durch: i) Vergleich von vereinfachten und detaillierten Modellen, z.B. auf kleinen Längen oder Zeitskalen; ii) Empfindlichkeitsstudien; iii) Vergleich mit experimentellen Beobachtungen und Messungen.

Komplexität und starke Nichtlinearitäten führen auch dazu, dass allgemein bekannte numerische Methoden zur Beschreibung von Plasmen und der Plasma-Wand-Wechselwirkung nicht ohne weiteres verwendbar sind. Anpassung von numerischen Verfahren und Entwicklung von neuartigen Methoden spielen deswegen in der PWW-Theorie eine sehr große Rolle. Auch das Problem der Verifikation, d.h. das Nachprüfen der Richtigkeit der numerischen Verfahren und der Programme zur Lösung der implementierten Gleichungen, noch vor deren Validierung am Experiment, wird zunehmend zur Herausforderung, da die Computerprogramme immer größer und die Algorithmen immer komplexer werden.

Eines dieser Teilprobleme ist die Wechselwirkung zwischen neutralen Teilchen und dem hauptsächlich aus geladenen Teilchen (Ionen und Elektronen) bestehenden Plasma. Diese Wechselwirkung wird durch eine mathematisch besonders herausfordernde Gleichung beschrieben (Boltzmann-Gleichung, verallgemeinert auf chemische Gemische). Die Gleichung wird daher zumeist „stochastisch“, mittels so genannter Monte-Carlo Methoden gelöst. Anschaulich bedeutet dies, dass einzelne Teilchentrajektorien betrachtet und deren Eigenschaften statistisch gemittelt werden. Das Verfahren wird in dem numerischen Code EIRENE realisiert, dessen erste Versionen bereits in den 80er Jahren am IEK-4 entwickelt wurden. Dieser Code wird sowohl eigenständig verwendet, z. B. für Berechnung der Wanderosion durch schnelle Atome, oder zur Interpretation experimenteller Resultate, aber er wird vornehmlich auch als Modul in kompliziertere numerische Pakete integriert.

Ein Beispiel eines solchen integrierten Pakets ist der in der Fusionsforschung auch weltweit verbreitete B2-EIRENE Code, der im Rahmen einer 2D-Näherung die Tokamak Plasma-Randschicht beschreibt. Magnetisierte geladene Teilchen werden dabei im Code B2 in einer strömungsmechanischen Näherung mittels Finite-Volumen-Methode behandelt. Die Version von B2-EIRENE, die auch für den Entwurf von wesentlichen Bauteilen des Fusionsreaktors ITER verwendet wird, wurde maßgeblich in Jülich konzipiert und wird dort heute technisch und physikalisch weiter entwickelt. 2013 wurde dieser Code offiziell an die ITER Organisation (Cadarache) übertragen, wo er jetzt für die weltweit mit ITER-Studien befasste Fusionsgemeinschaft betreut und weiterentwickelt wird.

Eine ähnliche gelagerte Forschungsaktivität des IEK-4 in diesem Bereich ist der EMC3-EIRENE Code. Das Programm EMC3 nutzt eine Monte-Carlo-Methode zur Lösung von Fluid-Gleichungen und ist dabei in der Lage, die Plasmaströmungen in dreidimensionalen Konfigurationen und komplizierten, teilweise chaotischen Magnetfeldern zu berechnen.

Weitere Informationen über die Programme EIRENE, B2-EIRENE, EMC3-EIRENE und andere Anwendungen, sowie die verwendeten Datenbanken für elementare atomare, molekulare und Oberflächen-Prozesse findet man auf der Web-Seite von Eirene.

Numerische Simulationen von Plasma-Strömungen und Plasma-Wand-Wechselwirkung haben maßgeblich den Entwurf von ITER-Wandelementen beeinflusst. Der dafür verwendete B2-EIRENE-Code wurde im IEK-4 konzipiert und wird stetig weiterentwickelt.

Die Codes B2 und EMC3 sind Beispiele von großskaligen Transportmodellen, die das Plasma, das Neutralgas und deren Wechselwirkung miteinander und mit der Wand in großen Volumina (Hunderte von Kubikmetern Plasmagefäß) beschreiben können. Allerdings enthalten diese Modelle eine gewisse Zahl freier Parameter, z. B. um die Turbulenzeffekte zu quantifizieren. Diese Modellparameter werden entweder
empirisch auf der Basis von Vergleichen mit experimentellen Daten ermittelt oder aber aus detaillierteren theoretischen Plasmamodellen, die eine Beschreibung von (kleinskaligen) Turbulenzeffekten beinhalten, durch Parametrisierung gewonnen. Zu dieser Kategorie von grundlegenderen Plasmamodellen gehört der im IEK-4 entwickelte Code ATTEMPT, der auch die auf kleineren Zeitskalen (schneller als Mikrosekunden) stattfindenden Fluktuationen von elektromagnetischen Feldern und Teilchenströmungen genauer berücksichtigt, allerdings noch unter Beibehaltung der Kontinuumsbeschreibung des Plasmas als elektrisch leitende Flüssigkeit. Der Transport von Energie und Teilchen senkrecht zum Magnetfeld (der sogenannte „Anomale Transport“) wird dadurch explizit und ohne extern eingestellte Parameter, wie z.B. empirische Diffusionskoeffizienten, simuliert.

Allerdings ist auch diese Beschreibung mitunter noch zu grob, insbesondere in unmittelbarer Nähe (wenige Millimeter) vor Bauteilen des Plasmagefäßes. Hier bilden sich plasmatypische Grenzschicht-Phänomene aus, die sogar für das Plasma selbst eine mikroskopische Beschreibung erfordern, als System mit vielen Einzelteilchen, die elektrisch stark miteinander wechselwirken.

Die sogenannte Debye-Randschicht, d.h. die dünne Schicht an der Grenze zwischen Plasma und Festkörper, die entscheidend den Energieübertrag vom Plasma auf die Wand bestimmt, lässt sich mit speziellen Teilchen-Methoden berechnen. Diese Methoden, ganz analog zu jenen aus der Astrophysik bei gravitierenden Massen, basieren auf der simultanen Berechnung eines großen Schwarms von geladenen Teilchen unter Berücksichtigung dessen elektrostatischer Wechselwirkung und Selbstorganisation, siehe hier.

Hier ist der Einsatz modernster Supercomputer notwendig. Gemeinsam mit dem Jülicher Supercomputing Center (JSC) werden diese numerischen Werkzeuge für PWW-Anwendungen angepasst und weiter entwickelt, siehe hier.
Sie helfen sowohl bei der Bestimmung von Randbedingungen für die großskaligen Plasma-Strömungsmodelle als auch bei der genauen, selbstkonsistenten Berechnung von Erosionsprozessen an Wandbauteilen und des Eindringens der so erzeugten "Verunreinigungen" in das Fusionsplasma.

In Fusionsplasmen gelten alle Elemente außer dem Wasserstoff und seinen Isotopen als Verunreinigungen. Normalerweise ist  ihr Vorhandensein im Plasma unerwünscht, wegen des Plasma-Wand-Kontakts aber letztlich unvermeidlich (in künftigen Kraftwerken kommt zunehmend auch Helium dazu, das bei der Kernfusion selbst als "Asche" produziert wird). In manchen Fällen werden aber Verunreinigungen auch gezielt ins Plasma eingebracht, um durch deren Strahlung die Wärmeflüsse auf eine größere Wandfläche zu verteilen und damit lokale Wärmelasten zu mindern. Im IEK-4 werden deshalb integrierte Modelle entwickelt, die erlauben, die Wirkung von Verunreinigungen auf das Plasma-Wand-System vorherzusagen. Bei der Entwicklung solcher Modelle zur Vorhersage des Reinheitsgrades des Fusionsfeuers, die sehr viele Phänomene auf großen räumlichen und zeitlichen Skalen umfassen, kommen nach wie vor analytische und semi-analytische Methoden und Näherungslösungen zum Einsatz.

Ein anderes Beispiel, bei dem die Lehrbuch-Methoden der theoretischen Physik immer noch ihre Anwendung finden, ist die Untersuchung von gestörten dreidimensionalen Magnetfeldern unter Ausnutzung der Analogie zur Hamiltonischen Dynamik. Kleine Störungen des Magnetfeldes entstehen in Fusionsplasmen immer, schon durch die Bauweise der Spulen; gelegentlich durch absichtliche Verwirbelung des Magnetfeldes mit Störspulen, oder aber durch intrinsische Plasma-Effekte (im Plasma selbst fließende elektrische Ströme). Ähnlich wie bei der Himmelsmechanik (z.B. Planetenbewegung, Einfluss störender Massen dritter Planeten) wird die Dynamik der Magnetfeldlinien und der geladenen Plasmateilchen in Tokamakplasmen mit Hilfe moderner chaostheoretischer Methoden untersucht.

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Dr. Dirk Reiser

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Letzte Änderung: 20.09.2022